Corona: Wenn Leben Leben gefährdet.

Corona: Wenn Leben Leben gefährdet.

Zu Beginn direkt eine enttäuschende, bittere Wahrheit: Dieser Text wird keine einzige Lösung aufzeigen. Er soll lediglich einen Gedanken in den Sinn rufen, der meines Erachtens noch immer viel zu kurz kommt.

Wie bei allen bisherigen Wellen ist der gesellschaftliche und politische Reflex der Gleiche: je höher die Zahlen steigen, desto lauter werden die Rufe nach Einschränkungen. Eingebettet wird das gerne in das Narrativ der Verantwortung.

Schon jetzt sind die Fastnacht feiernden Menschen vermeintlich verantwortungslos. Nächste Woche sind Jene unmenschlich, die ihren Geburtstag mit mehr als 20 Leuten feiern. An Weihnachten ist verantwortungslos, wer mit der Familie den Abend verbringt. Und wenn es schlecht läuft, dann sind im Dezember und Januar grundsätzlich alle Menschen verantwortungslos, die sich mit mehr als zwei Freunden treffen.

Freunde und Familie werden abstrakt zu Kontakten. Und die gilt es bekanntlich zu reduzieren.

Soziales Miteinander wird zu Party. Denn auch dagegen argumentiert es sich leichter.

Immer nach dem Motto: „Normal natürlich immer gerne, aaaaber muss das wirklich gerade jetzt unbedingt sein!?“

Dass wir uns am Ende des aktuellen Winters bereits volle zwei Jahre in der Pandemie befinden, wird dabei gerne vergessen.

Ich kenne Menschen, die können – wenn es schlecht läuft – im Frühjahr an ihrem Geburtstag wieder nicht ihre engsten Freunde zusammenbringen. Und das nicht zum ersten Mal. Auch nicht zum zweiten Mal. Nein, zum dritten Mal. 2020, 2021, 2022. Klar, auch das ist verkraftbar, aber es veranschaulicht die Zeiträume über die wir mittlerweile sprechen.

Wenn man darauf hinweist, wird – durchaus zu Recht – die Notwendigkeit des Schutzes von Menschenleben betont. Gegen drohende Todesfälle und gegen das Leben ziehen natürlich jegliche menschliche Aktivitäten den Kürzeren.

Auf den ersten Blick gewinnt in der Abwägung dann also immer das menschliche Leben.

Was wir dabei aber vergessen, eigentlich heißt die Abwägung, die wir als Gesellschaft vornehmen müssen: Leben oder Leben.

Denn ob regelmäßiger Schulbesuch, Treffen mit Freunden, Geburtstags- oder Weihnachtsfeier, Fußballspiel, Seniorensport, Musikunterricht, Tagesausflug, Studium in einer fremden Stadt oder Vereinsarbeit – all das ist ganz normales Leben von Millionen von Menschen. Es macht uns Menschen zu dem was wir sind. Es schafft Erfahrungen und Erinnerungen und beeinflusst unseren Charakter.

Genau deshalb ist eine Pandemie ja so pervers. Sie trifft das Leben in all seinen Facetten.

Doch zurück zur Abwägung: In der einen Waagschale liegt also das Leben von mittlerweile fast 100.000 an Corona gestorbenen Menschen (allein in Deutschland). Hinzu kommt das Leben von all den Menschen, die bedauernswerterweise noch an Corona sterben werden.

In der anderen Waagschale liegt aber eben auch Leben. Nämlich das ganz normale Alltags-Leben von vielen Millionen Menschen. In der 1:1-Abwägung von einem Todesfall zu einer Party muss man nicht lange überlegen. Klar, sagt man die Feier ab, um seine Mitmenschen zu schützen.

Doch was, wenn die Abwägung beispielsweise lautet: 100 Todesfälle versus Schulbildung unserer mehr als 8 Millionen deutschen Schülerinnen und Schüler. Oder 1000 Todesfälle gegen das gemeinsame Weihnachtsfest von vielen Millionen Familien und Freunden.

Ich persönlich kann diese Fragen nicht klar beantworten. Persönlich bin ich jedoch der Ansicht, dass mein einzelnes Leben im Fall der Fälle nicht mehr als all das wert wäre.

Und da unser aller Leben aus so viel mehr besteht, könnte man diese Vergleiche beliebig fortführen.

Die Beispiele sollen zeigen: nicht „Party“ oder „Feierei“ gefährden Leben. Sondern ganz normales Leben gefährdet Leben.

Das macht es so verdammt schwer.

Und genau deshalb bräuchte es endlich einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Diskurs zum ganz grundsätzlichen Umgang mit Corona. Auch wenn diese Debatten definitiv weh tun würden. Denn im Grunde müssen wir eine Frage beantworten: wieviel ist uns das Leben wert? Sowohl das einzelne Menschenleben als auch unser aller gemeinsames, tägliches Leben.

Diesen Diskurs endlich anzustoßen, das wäre meines Erachtens ureigenste Aufgabe von Politik.

Corona darf keine Flüchtlingskrise 2.0 werden

Corona darf keine Flüchtlingskrise 2.0 werden

An Corona spalten sich mehr und mehr die Geister. Und nicht nur das: Unsere Gesellschaft spaltet sich schon wieder auf. „Bist du für oder gegen Corona-Maßnahmen?“ Was für eine Frage. Ich bin für sinnvolle, wirksame und verhältnismäßige Maßnahmen. Und gegen symbolisch-aktionistische, die nur der Profilierung einzelner Politiker als besonders hart oder eben besonders liberal dienen sollen und die keine signifikante Reduzierung der Fallzahlen bringen.

Die Verkürzung auf ein „dafür“ oder ein „dagegen“ hatten wir schon einmal. 2015. Zur Zeit der Flüchtlingskrise. Und sie wirkt bis heute nach. Auch damals wurde man entweder schnell pauschal als naiver „Gutmensch“ oder als ausländerfeindlicher „besorgter Bürger“ in Schubladen gesteckt, in die wohl die wenigsten von uns so klar einzuordnen sind.

Es gibt – wie so oft – nicht nur schwarz oder weiß. Es muss etwas dazwischen geben. Und das gilt auch hinsichtlich Corona. Menschen, die jegliche wissenschaftliche Erkenntnisse und teilweise die Existenz von Corona grundsätzlich leugnen, werden wir wohl (leider) nicht mehr zurückgewinnen.

Aber Menschen, die berechtigte Kritik an einzelnen Maßnahmen äußern und deren Wirkung oder Verhältnismäßigkeit schlicht kritisch hinterfragen, die müssen ihren festen Platz in unserer Gesellschaft haben.

Denn man kann Corona als ernste Gefahr wahrnehmen und trotzdem gewisse Maßnahmen als inkonsistent oder unverhältnismäßig erachten.

Beispielsweise wenn Kinder und Jugendliche in der Schule strengstens auf Abstand getrimmt werden, teilweise ihre Freunde nicht mehr treffen sollen, aber danach in den vollkommen überfüllten Bus steigen sollen.

Wenn man wegen Corona selbst an frischer Luft und auf Abstand offiziell nicht mehr seine engsten Bezugspersonen treffen darf.

Wenn einzelne Branchen mit Milliarden zugeschüttet werden und andere Branchen ewig – oder gar vergeblich – auf Hilfe warten.

Wenn aus gesundheitlichen Gründen (Corona) andere gesundheitlich hochrelevante und sinnvolle Aktivitäten wie Bewegungsangebote verboten werden.

Fast jeder von uns kennt so ein Beispiel aus seinem eigenen Umfeld. Und klar: bei manchen dieser Punkte mag man auch bei längerem Abwägen zum Schluss kommen, dass es leider der bestmögliche Weg ist. Bei anderen würden wir aber vielleicht merken, dass die Argumente für eine Korrektur überwiegen.

Doch all das setzt einen breiten gesellschaftlichen Diskurs voraus.

Wenn wir als vermeintlich aufgeklärte Gesellschaft diesen Diskurs nicht führen, dann suchen sich viele Menschen andere Anlaufstellen. Die Ränder werden weiter gestärkt uns es findet eine weitere Zuspitzung auf zwei vollkommen gegensätzliche Pole statt.

Eine solche Polarisierung müssen wir aber unbedingt verhindern. Denn eine polarisierten Gesellschaft ist gelähmt. Sie kann keine Probleme lösen. Siehe Amerika. Für uns alle wäre das nicht nur mit bei Corona gefährlich. Sondern ebenso mit Blick auf alle weiteren großen Herausforderungen der nächsten Jahre.

Wir alle gemeinsam. Als kritische Geradeaus-Denker. Wie wär’s?

Bild: http://www.pixabay.de

Viele Köche machen den Brei gefährlich.

Viele Köche machen den Brei gefährlich.

Die Ereignisse im Nahen Osten erinnern an einen schlechten Film und für den Laien ist es beinahe unmöglich zu einer eigenen und vor allem halbwegs belastbaren Meinung dazu zu kommen.

Normalerweise hilft es bei komplizierten (welt)politischen Ereignissen nach dem jeweiligen Interesse der beteiligten Akteure zu fragen.

Doch auch das ist in dem Fall wenig hilfreich:

Theoretisch…

… hat der Iran durchaus ein Interesse daran, ein innenpolitisches Zeichen zu setzen und zu zeigen, dass man sich von den verhassten USA nicht alles gefallen lässt.

… haben die USA unter Trump ein Interesse daran, einen Vorwand für das – irgendwann vielleicht sogar militärische – Vorgehen gegen Iran zu besitzen.

… hat das sunnitisch geprägte Saudi-Arabien ein Interesse daran, dass der Konflikt zwischen den USA und dem verhassten schiitisch geprägten Iran eskaliert, um sich die Vorherrschaft im arabischen Raum zu sichern.

… hat Israel ein Interesse daran, dass der verhasste Iran von den USA möglicherweise sogar militärisch in die Schranken gewiesen wird.

Wenn man jetzt noch überlegt, dass all diese Staaten mehr oder weniger sehr aktive Geheimdienste haben, dann stimmt einen das nicht unbedingt positiv.

Denn bei solch unklaren Verhältnissen entscheiden am Ende möglicherweise Geheimdienst-Informationen oder gar Geheimdienst-Aktionen über Eskalation und Entspannung, vielleicht sogar über Krieg und Frieden.

Hoffen wir, dass in der Weltpolitik noch ausreichend Charaktere aktiv sind, die diese Informationen dann besonnen, kritisch und objektiv bewerten, statt einem dieser Akteure blind zu folgen. Egal welchem. Denn alle 4 Akteure sind alles andere als Heilige.

Screenshot: faz.net (14.06.2019)

GeDenken im Jahr 2019: Ohne schlechtes Gewissen.

GeDenken im Jahr 2019: Ohne schlechtes Gewissen.

Am kommenden Sonntag ist Holocaust-Gedenktag. An diesem Tag vor 74 Jahren wurde das Vernichtungslager Auschwitz befreit. Mancher wird dann wieder kopfschüttelnd verschiedene Gedenkreden zur Kenntnis nehmen.

„Kann man’s nicht irgendwann mal auf sich beruhen lassen?“.
„Ich kann doch Nichts für das was die Nazis damals getan haben.“
„Da war ich nicht einmal geboren.“
„Wir Deutsche sollen uns wohl lebenslang schuldig fühlen.“

Selbst habe ich diesen Zusammenhang zwischen Gedenkarbeit und dem vermeintlichen Zwang zum schlechten Gewissen nie empfunden. Man muss allerdings zur Kenntnis nehmen, dass diese Wirkung bei manchen Menschen entsteht. Vor allem dann, wenn politische Würdenträger den Holocaust vorschnell und unvorsichtig in die Waagschale werfen, um politische Ziele zu erreichen. Gerne heißt es dann: „Gerade wir Deutsche haben eine besondere Verantwortung und deshalb müssen wir dieses oder jenes tun“. Ist das so? Müsste es nicht vielmehr heißen: Wir Menschen haben eine besondere Verantwortung. Die Verantwortung, dass so etwas – egal wo – nie wieder passiert. Denn es ist eine berechtigte Frage, wieso beispielsweise ein viele Jahrzehnte nach dem Holocaust geborener 30-jähriger deutscher Installateur stärker in der Verantwortung steht als sein französisches oder amerikanisches Pendant.

Druck erzeugt Gegendruck. Und Trotz. Und wenn der Eindruck entsteht, dass Stolz auf die eigene Nation und ein kritischer Umgang mit der NS-Zeit sich gegenseitig ausschließen, dann stellen wir unsere Mitmenschen vor eine unnötige Wahl und machen es dem Populismus noch einfacher. Entweder Stolz oder Gedenken. Man kann wohl ahnen wofür sich viele Menschen dann entscheiden.

Dabei lässt sich beides doch vollkommen problemlos verbinden. Ich weiß um die dunkleren Kapitel unserer Geschichte und trotzdem bin ich stolz auf Deutschland. Gerade auch auf unseren Umgang mit unserer eigenen Geschichte. Anders als beispielsweise die Türkei im Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern, haben wir sie nämlich in großen Teilen ernsthaft aufgearbeitet.

Wieso nach so vielen Jahren überhaupt noch Gedenken?

Erstmal: Niemand muss gedenken. Und doch lohnt es diesbezüglich, die zwei folgenden handschriftlichen Einträge zu lesen. Sie stammen aus einem Geheimarchiv des Warschauer Ghettos über das zur Zeit ein sehr guter Dokumentar-Film in der ARD-Mediathek zu sehen ist. Es sind die jeweils letzten Einträge dieser beiden Menschen.

„Auf der Straße wird wie verrückt geschossen. Ich habe gerade gehört, dass das Haus meiner Eltern umstellt ist. Ich werde zu ihnen rüberlaufen und nachsehen, ob es ihnen gut geht… Erinnert euch. Mein Name ist Nahum Grzywacz.

Letzter Eintrag von Nahum Grzywacz
in das Geheimarchiv Oneg Schabbat.

„Ich erwarte kein Lob. Ich möchte nur, dass man sich an mich erinnert. Ich möchte, dass man sich an meine Frau erinnert. Die Malerin Gele Seckstein. In den letzten 3 Jahren hat sie im Ghetto als Lehrerin mit Kindern gearbeitet. Sie hat Bühnenbilder und Kostüme für’s Kindertheater entworfen.   Meine Tochter Margalith ist heute 20 Monate alt. Sie hat richtig Jiddisch gelernt und spricht es fließend. Ich trauere um dieses liebe, kleine, talentierte Mädchen. Sie verdient es auch, dass man sich an sie erinnert.

Letzter Eintrag von Israel Lichtenstein
in das Geheimarchiv Oneg Schabbat.

Diese letzten Wünsche nach schlichter Erinnerung – nicht nach der Erinnerung als Held oder Widerstandskämper – sondern einfach nur als Person, als Mensch, dieser letzte Wunsch offenbart das übergeordnete Ziel der Nationalsozialisten: Nicht nur das jüdische Volk sollte restlos ausgelöscht werden, sondern ebenso die Erinnerung daran. Diese Menschen sollten nie existiert haben.

Diesen – im wahrsten Sinne des Wortes – wahnsinnigen Plan können wir alle noch heute jederzeit durchkreuzen und den Ermordeten so ihren letzten Wunsch erfüllen. Ohne uns dabei selbst schuldig fühlen zu müssen. Durch kurzes Wahrnehmen eines sogenannten Stolpersteins, durch Lesen eines Zeitungsartikels oder einer Gedenktafel oder auch durch das Schauen einer guten Doku. Schlicht: durch kurzes GeDenken.

Quelle der Zitate: https://www.ardmediathek.de/ard/player/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3JlcG9ydGFnZSBfIGRva3VtZW50YXRpb24gaW0gZXJzdGVuLzI0YzU1YWIwLWIyNmQtNDlkOS1iMDlkLTdhN2UyNTZiNTE3ZQ/

Quelle des Beitragsbildes:
Eigene Fotografie vom Cover des Buches „Auschwitz: Die Geschichte des Vernichtungslagers (edition ost)“

Nadia Murad: Das personifizierte Plädoyer für mehr Differenzierung.

Nadia Murad: Das personifizierte Plädoyer für mehr Differenzierung.

In einer Zeit, in der die Debatte um Asyl zunehmend durch die Negativbeispiele geprägt wird, kann ein Blick auf die frisch gekürte Friedensnobelpreisträgerin für uns Deutsche durchaus als gesellschaftliche Selbstvergewisserung dienen.

Nadia Murad. Als Jesidin wurde sie 2014 beim einem Überfall Ihres Heimatorts durch den IS im Nordirak zum Opfer. Sie verlor nicht nur ihre Mutter und sechs Brüder, die alle getötet wurden. Sie selbst wurde vom sogenannten Islamischen Staat als Sexsklavin verschleppt.

Schließlich gelang ihr die Flucht. Offenbar dank der Hilfe einer muslimischen Familie. Und sie kam über ein Sonderkontingent nach Deutschland, wo wir ihr als Gesellschaft Schutz gewährten. Seit 2016 kämpft sie unermüdlich als erste UN-Sonderbotschafterin für die Würde der Überlebenden von Menschenhandel.

Noch immer sind viele ihrer Leidensgenossinnen in der Gewalt des IS. 1.500 Frauen und Mädchen sollen es noch immer sein. 1.500 größtenteils junge Frauen, die vielleicht gerade in diesem Moment wieder Unfassbares erleben. Im wahrsten Sinne des Wortes Unfassbar: Nicht fassbar. Nicht greifbar. Nicht vorstellbar. Weil das Ausmaß dieser Verbrechen jede Skala unseres behüteten, westlichen Lebens sprengt. Von bis zu 40 Vergewaltigungen berichten vergleichbare Geflohene – pro Tag. Wenn die Hölle auf Erden existiert, dann haben Frauen wie Nadia Murad sie wohl erlebt.

Ich für meinen Teil bin froh und stolz, dass wir zumindest dieses eine Schicksal verändert haben, auch wenn die Narben dieser Höllenzeit des unmenschlichen sexuellen Missbrauchs psychisch, leider aber wohl auch körperlich, wohl nie mehr ganz verheilen werden.

Wir könnten uns nun wieder für unser vermeintlich gut funktionierendes Asylrecht auf die Schulter klopfen. Das griffe aber viel zu kurz.

Schicksale wie das von Nadia Murad müssen viel mehr Ansporn sein, das Thema Asyl zu ordnen. Wir müssen jenen, die unser Asylrecht ausnutzen mit aller Härte entgegentreten, wenn wir verhindern wollen, dass Menschen wie Nadia Murad, die unsere Hilfe wirklich brauchen und verdienen, in der gleichen Schublade landen. Nur so – nämlich durch kritische Differenzierung – wird die Akzeptanz bei der hiesigen Bevölkerung für unser Asylrecht auf Dauer aufrecht zu erhalten sein. Wie brauchen Blüte und Dornen.

Man muss sich Nichts vormachen. Nicht jeder Flüchtling ist ein Nobelpreisträger von morgen. Aber genauso wenig ist jeder Flüchtling ein Straftäter von morgen. Diese zwei Wahrheiten sind zwei Seiten der selben Medaille. Wenn man genau das einfach einmal nüchtern akzeptiert und nicht immer eine Hälfte vernachlässigt, um das jeweils eigene Weltbild zu stützen, dann würde die politische Debatte wohl um Einiges ehrlicher, vor allem aber zielführender. Menschen wie Nadia Murad könnten wir dann auch in Zukunft helfen.

Quelle des Fotos:
© http://www.nadiasinitiative.org // © Nadia Murad

Politik im Zeichen der Rose.

Politik im Zeichen der Rose.

Nicht erst die Debatten um Chemnitz zeigen, es muss sich etwas ändern. So richtig und wichtig uns die Appelle an Toleranz und Mitmenschlichkeit auch erscheinen mögen, allein werden sie auf Dauer nicht genügen. Wir, die gemäßigten Kräfte in Deutschland müssen auch endlich etwas verändern. Wir müssen mit der gleichen Vehemenz, mit der wir gegen Radikalismus argumentieren, auch gegen politische Missstände vorgehen, wenn wir nicht immer mehr normale Menschen an wirkliche Rechtsradikale verlieren wollen. Denn zur ganzen Wahrheit von Chemnitz gehört auch, dass einer der beiden mutmaßlichen Täter schon lange hätte legal abgeschoben werden können. Solange wir das als Zivilgesellschaft nur mit einem Schulterzucken hinnehmen, wirken die Appelle und Benefizkonzerte für Rechtsstaatlichkeit, Toleranz und freiheitliche Werte – so gutgemeint sie auch sein mögen – auf viele Menschen unglaubwürdig. Sie verkommen zu hohlen Phrasen und Worthülsen.

Unsere Zeit und die heutigen Problemstellungen sind komplex und für viele Menschen immer schwieriger greifbar. Vielleicht sollte man deshalb erstrecht für einen Moment innehalten und vereinfachen. Mit einem Sinnbild, das auf den ersten Blick so gar Nichts mit Politik zu tun hat.

Betrachten wir Deutschland einmal als Rose. Unsere Errungenschaften und Werte, auch das Asylrecht, das Schutz gewährt, sind eine Blüte, die uns ausmacht, in die Welt strahlt und auf die wir stolz sein können. „Blüh‘ im Glanze dieses Glückes“ heißt es nicht umsonst in unser aller Nationalhymne. In einer perfekten Welt würde das genügen. Doch die Welt ist nicht perfekt. So wie die Rose natürliche Fressfeinde besitzt, gibt es auch viele Menschen, die unsere freiheitliche Demokratie missbrauchen. Dornen sind deshalb auch für unsere Gesellschaft existentiell. Sie sind grundlegend dafür, dass wir auf Dauer bestehen können.

Die Mehrheit will nach wie vor nicht, dass im Mittelmeer Menschen ertrinken. Sie will, dass wirklich Schutzbedürftigen geholfen wird. Sie will nicht, dass wir unsere Werte opfern und sinnbildlich zu einem vollkommen verdornten Gewächs mutieren, wie es manch rechtere Gesellen fordern.

Ebenso müssen aber auch linkere Geister endlich einsehen, dass sich etwas ändern muss. Solange wir als Gesellschaft nicht beginnen an den richtigen Stellen auch viel mehr Härte zu zeigen und solange wir zulassen, dass sich ein Terrorist 14 Identitäten zulegen oder dass ein Asylbewerber falsche Angaben zu seinem Alter machen kann, werden wir unsere Werte dauerhaft nicht halten können. Denn wenn der Rechtsstaat nicht funktioniert, werden jene, die ihn abschaffen wollen, irgendwann in der Mehrheit sein. Dann wird die Gesellschaft irgendwann – und das nicht zu Unrecht – die Geduld verlieren. Dann wird beispielsweise das Asylrecht ganz unter die Räder kommen. Und dann werden wir irgendwann gar niemandem mehr helfen können. Das müssen auch linkere Strömungen berücksichtigen.

Die Lösung liegt also wie so oft in der Mitte. Wir brauchen Blüte und Dornen, wenn wir unser politisches System auf Dauer erhalten wollen. Wir müssen aufhören uns gegenseitig nur als „Gutmenschen“ oder „besorgte Bürger“ abzustempeln – denn wir brauchen beide vermeintlichen Lager, wenn wir verhindern wollen, dass dieses Thema unsere Gesellschaft vollkommen zersprengt.

Aus diesem Leitgedanken ließe sich so viel machen. Denn in der gemeinsamen Ablehnung von Menschenverachtung und Gewalt auf der einen, aber eben auch Asylmissbrauch oder religiösem Fundamentalismus auf der anderen Seite steckt unglaublich viel gesellschaftlicher Konsens.

Ab Montag, wenn der Bundestag aus der Sommerpause zurückkehrt, hätten die Abgeordneten die Chance dazu, endlich zu einem großen, gemeinsamen Wurf über alle politischen Lager hinweg auszuholen. Das wäre so wichtig. Sieht man die letzten drei Jahre seit Beginn der Flüchtlingskrise, so muss man jedoch befürchten, dass es wieder nur bei Symbolpolitik für das jeweils eigene Lager bleibt. Die zunehmende Polarisierung wird so weiter eskalieren. Mit ungewissem Ausgang für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und unsere gesamte Gesellschaft.

Anmerkung: Dieser Beitrag wurde am 06.09.2018 an alle 709 Abgeordneten des 19. deutschen Bundestags verschickt. Meinungen & Ergänzungen gerne als Kommentar oder vertraulich an kontakt@werenoli.de.

Offener Brief an Marcus Held: Forderung nach Rücktritt als MdB.

Offener Brief an Marcus Held: Forderung nach Rücktritt als MdB.

Hallo Marcus Held,

auch wenn ich von der inflationären Verwendung von Rücktrittsforderungen in der Politik wenig halte – selbst von dir habe ich einen solchen bisher noch nicht gefordert – so nötigen mir Rücktritte in den meisten Fällen eigentlich zumindest ein Mindestmaß an Respekt ab. Immerhin zeugen sie in der Regel von Einsicht. Vom Eingestehen eigener Fehler. Von der Übernahme von Verantwortung.

Eigentlich.

Denn in deinem Falle hat leider sogar das keine Gültigkeit. Denn der kommunizierte Rücktritt ist ja nur die Hälfte wert. Monetär gesehen sogar noch weit weniger, denn das im Vergleich zu den Oppenheimer Posten noch wesentlich lukrativere Bundestagsmandat inklusive der Pensionsansprüche behältst du trotz aller Enthüllungen.

Respekt und Demut gegenüber dem politischen Amt und den Bürgern sieht leider anders aus. Vielsagend ist neben dem nur halben Rücktritt für mich aber vor allem ein Detail in der Erklärung: „Kein Schuldeingeständnis“. Denn diese Formulierung sagt vor allem eines aus: Dass du noch immer nicht erkannt hast, worum es vielen Menschen bei den Vorwürfen gegenüber dir eigentlich geht. Vielen geht es eben nicht ausschließlich um die strafrechtliche Relevanz deines Verhaltens.

Deshalb greift auch das von dir und deinen Mitstreitern ständig wiederholte Mantra es dürfe keine „Vorverurteilung“ geben viel zu kurz. Und folglich stünde dir die Deutungshoheit, die du offenbar noch immer für dich beanspruchst, nur dann zu, wenn sich herausstellen würde, dass alle vorgebrachten Vorwürfe vollkommen frei erfunden wären. Das darf wohl bezweifelt werden.

Die katastrophale Haushaltsführung mit Goldringen und finanziellen Gefallen an Parteigenossen ist das eine. Den meisten ist hier übrigens klar, dass du dafür nicht alleine verantwortlich bist.

Doch eine ganz andere Hausnummer ist der selbstgefällige und abgehobene Umgang mit allen zu Tage geförderten Vorwürfen der letzten Monate, der in erster Linie immer auf der Diffarmierung der jeweiligen Kommunikatoren und weniger auf der sachlichen und inhaltlichen Entkräftung der Vorwürfe basierte. Das ist schwach. All das könnte man mit viel gutem Willen aber noch als weitere Fehler in einer sicher nicht einfachen Situation ansehen. Charakterlich fragwürdig wäre es aber natürlich auch schon.

Doch die Enthüllungen um das Ausnutzen des eigenen (vom Bürger gegebenen) Amtes zum persönlichen Vorteil in einer solchen Größenordnung ist weit mehr als nur fragwürdig. Es ist der letzte Mosaikstein, der auch in mir jegliche gesunden Selbstzweifel beseitigt und mich in meinen Eindruck bestätigt, dass dir die charakterliche Eignung für die Volksvertretung im deutschen Bundestag schlicht fehlt. 

Vermutlich magst du diese Zeilen kurz überfliegen und dich nun fragen, was ich mir an dieser Stelle als junger Kerl eigentlich anmaße. Das kann ich dir nicht mal verdenken. Doch als Bürger aus dem Wahlkreis erwarte ich hiermit schlicht, dass du für dein Handeln endlich wirkliche Verantwortung übernimmst und von deinem Amt als Bundestagsabgeordneter der Bundesrepublik Deutschland zurücktrittst. Bei allem Respekt vor der (wirklich) schönen Stadt Oppenheim ist mir das persönlich viel wichtiger als all deine kommunalen Ämter.

Warum? Das habe ich dir schon einmal persönlich geschrieben. Und da sich inhaltlich (leider) Nichts geändert hat, möchte ich das an dieser Stelle noch einmal in Erinnerung rufen:

„Du schreibst dir auf die Fahnen ein Gegner des Rechtspopulismus zu sein. Mit dem Verhalten bist du meines Erachtens aber – bei allen Verdiensten und vermutlich ohne es zu bemerken – einer seiner größten Wegbereiter. Das mag martialisch und übertrieben klingen. Unterhält man sich aber mal ernsthaft und abseits von Parteienzugehörigkeit mit Menschen über Politik, so stellt man fest, dass das die Realität durchaus abbildet.

Denn genau das ist das Verhalten, welches viele Bürger das Vertrauen in die Politik verlieren lässt. Und das gilt bei weitem nicht nur für als „Ewiggestrige“ oder „Abgehängte“ diffamierte Bürger, sondern auch für einen Großteil der gemäßigten Menschen in Deutschland. Jede dieser stark zu hinterfragenden Aktionen lässt diese Menschen zweifeln und führt auf Dauer zur Destabilisierung unseres politischen Systems.“

– eMail an Marcus Held vom 20.11.2017, 19:47 Uhr.


Abschließend möchte ich allerdings noch etwas betonen. Ich bin der Auffassung, dass jeder Mensch irgendwann eine zweite Chance verdient hat. Das gilt selbstverständlich auch für dich.
Die Grundvoraussetzung dafür ist aber der konsequente Rücktritt von dem Amt, zu dem dich die Menschen aus Partei und Wahlkreis bei früherem Bekanntwerden deiner Machenschaften nie gewählt hätten. Und langfristig das Erkennen der eigenen Fehler und eine glaubhafte Läuterung. Angesichts deines Umgangs mit all den Vorwürfen bin ich mir allerdings nicht sicher, ob das die verzerrte Selbstwahrnehmung, vor allem aber die Selbstherrlichkeit – die aus vielen Handlungen und Äußerungen der letzten Monate spricht – wirklich zulässt.

Christian Bachmann.

Inhaltlich mitgetragen von:

Jörn Butterfass (Dexheim) – Albert Bachmann – Fabian Bernhard – Hubert Horn – Nico Schneider – Chris Best – Nils Kühne – Philipp Schmitt – Anett Raabe (Uelversheim) – Marcel Schroth – Anja Griesbaum – Lukas Horn – Harry Braum (Nierstein) – Jürgen Koch (Dalheim) – Friedhelm Schmitt (Nierstein) – Christiane Horn – Marian Brückner – Johannes Gerhard – Sven Brückner – Niklas Brückner – Hannah Manz – Fenja Wehrheim – Jannis Tauchert (Nackenheim) – Maurice Lampert (Dienheim) – Stephan Benz (Nierstein) – Armin Feldmann (Selzen) – Stefanie Strub – Dominik Fischer – Daniela Lerch – Cora Navratil – Stefan Friedrich – David Gerhard – Rebekka Hill (Uelversheim) – K. Scherning – Volkmar Kröhl – Indre Stay – Stefan Stay – Beate Hill – Irmgard Bachmann – Dominik Köhler – Joelle Ernst – Sarah Hofstetter – Andreas Brosi (Nierstein) – Ronny Best – Bernd Harth-Brinkmann – Sabrina Hoffmann – Volker Schneider – Jutta Hoff – Josef Völker (Oppenheim) – Astrid Best – Tobias Hartmann – Markus Haase (Oppenheim) – Bernd Uhl (Dalheim) – Dr. Michael Anheuser – Martin Müller-Haeseler – Melanie Loos – Georg Bienroth (Oppenheim) – Peter Pfau (Oppenheim) – Jutta Gärtner (Schwabsburg) –
Franz-Josef Kolb – Ralf Meyer (Gimbsheim) – Engelbert Sauter (Dalheim) – Markus Frieauff (Nierstein) – Rainer Ebling (Oppenheim) – Steven Walkowiak – Ralf Weber (Osthofen) – Pia Johannson (Nierstein) – Fritz Eitel – Sebastian Best – Gertrud Bachmann – Celine Ernst – Beate Bienroth – Stefanie Müller-Gerhard (Oppenheim) – Gabriela Richter (Oppenheim) – Gunter Landbeck (Hillesheim) – Thomas Heier (Köngernheim) – Simone Raber (Oppenheim) – Marion Schwarz – Marc Diemer – Dirk Berges – Stefan Burkhard (Weinolsheim) – Hans Wehrheim – Kirsten Blüm – Klaus Hagemann jun. (Weinolsheim) – Dan Kokoscha – Ralf Ranzenberger – Dietmar Muscheid – Natascha Kähler – Theo Drodten – Frank Becker – Martin Pfennig – Mario Sander – Sandra Kittel – Klaus-Peter Haas (Dorn-Dürkheim) – Kerstin Veser – Johannes Weise – Dirk Strauch – Andrea Manz – 100 – Evelyn Becker – Marita Ranzenberger – Jörg Bienroth – Stephanie Kolb-Flothow – Silke Strauch – Christoph Tornier – Dagmar Friedrich – Sigi Huff – Walter Manz – Christian Schenk (Oppenheim) – Michael Hirsch (Hahnheim) – Marco Zupancic – Jens Mansmann (Dalheim) – Christian Diener – Beate Haub – Jan Ruzycki (Hahnheim) – Anne Fender – Karl-Heinz Friedrich (Oppenheim) – Silke Mittermeier – Konstantin Guntrum (Nierstein) – Reiner Dillmann – Anika Pries – Stefan Dörr (Dorn-Dürkheim) – Johannes Horn – Stephanie Steichele-Guntrum – Susanne Jubelius – Stephan Arnold – Silke Güttler – Martina Pfeifer – Horst Schlicht – Ursula Schlicht – Hans-Georg Keßler (Gau-Bischofsheim) – Helga Lösch – Debora Kolb – Wolfgang Raber – Ursula Wilbert – Elsbeth Seeger – Frank Seeger – Siegfried Seeger – Heiko Koch – Christian Lohmüller – Christiane Harsleben – Ralf Gerhard – Markus Schäfer – Sabine Schäfer – Axel Dahlem – Bianca Quessel – Nadine Koch – Haide Schmuck-Hahner (Undenheim) – Sabine Kunz – Rebecca Horn – Jutta Szymkowiak – Thomas Fleck – Susanne Kehder-Braum – Brigitte Schiltz – Jürgen Hoff – Renate Berens – Gabriele Staab (Köngernheim) – Rainer Struckmeier – Andreas Jung (Ludwigshöhe) – Angelika Hamm – Jutta Butterfass – Bernd Brinkmann (Oppenheim) – Thomas Bischmann (Wintersheim) – Annette Rogles – Harald Laubenheimer – Anette Zander (Oppenheim) – Berthold Zander (Oppenheim – Achim Kühne (Dexheim) –

… – [hier kann Dein/Ihr Name stehen] – …

Wer das sonst noch inhaltlich mittragen möchte,
den ergänze ich nach einer kurzen Nachricht gerne.

Diplomatie braucht [leider] auch militärische Stärke.

Diplomatie braucht [leider] auch militärische Stärke.

Wer die Forderung nach einer besseren finanziellen Ausstattung der Bundeswehr pauschal als Kriegstreiberei oder unnötiges Wettrüsten bezeichnet, dem sei die nüchterne und gleichzeitig beschämende Bestandsaufnahme des Wehrbeauftragten empfohlen, die er heute im Rahmen seines Jahresberichts präsentiert hat.

„Die Materiallage bleibt dramatisch schlecht. An manchen Stellen ist sie noch schlechter geworden. Zum Jahresende waren sechs von sechs deutschen U-Booten außer Betrieb. Zeitweise flog von mittlerweile 14 in Dienst gestellten Airbus A400M-Maschinen keine einzige.“

– Hans-Peter Bartels, Wehrbeauftragter des Bundestages

Diplomatie muss immer die absolute Maxime politischen Handelns sein. Und es ist gut, dass wir die Zeiten in der jeder Konflikt direkt militärisch ausgetragen wurde überwunden haben. Aber die Wirksamkeit der Diplomatie basiert maßgeblich auf einer glaubhaften Stärke. Nur wenn ein Aggressor ernsthaft mit Konsequenzen rechnen muss, wird er sich am Verhandlungstisch bewegen. Daraus zieht die Diplomatie ihre Kraft.

Wer sich mit Bundeswehrsoldaten unterhält, der kommt gar nicht daran vorbei sich intensiver mit dem Thema zu befassen. Der chronische Materialmangel ist dabei nur eine Facette. Mindestens genauso bedenklich ist der Personalmangel.

Mit „Bedarf schafft Eignung“ hat sich für diesen Missstand bei Teilen der Soldaten schon ein eigener Begriff entwickelt: Viel zu wenige Menschen bewerben sich für zu viele freie Stellen. Folglich führt der enorme Bedarf dazu, dass auch weniger geeignete Kandidaten eingestellt werden. Die Bundeswehr als Institution kann dafür Nichts, sie muss mit den vorhandenen Ressourcen und Rahmenbedingungen umgehen.

Vielmehr muss die Politik endlich dafür sorgen, dass nicht einfach Eintrittshürden gesenkt werden müssen, sondern dass sich die Rahmenbedingungen in der Truppe spürbar verbessern. So wie jedes vernünftige Unternehmen bei Personalmangel auch erst einmal in die eigene Attraktivität investieren sollte, statt Abstriche bei der Qualität der eigenen Mitarbeiter zu machen.

Bei der Bundeswehr riskieren tausende Menschen ihr Leben. Manche vielleicht aus Abenteuerlust, aber ein großer Teil vor allem, um unsere demokratisch-freiheitliche Grundordnung gegen verschiedenste Feinde weltweit zu verteidigen.

Dass wir es als Gesellschaft zulassen, dass es diesen Menschen an essentiellem und überlebenswichtigem Material wie Schutzwesten oder ähnlichem hapert ist eigentlich blanker Hohn.

Der demokratische Rechtsstaat ist nicht irgendeine beliebige Option.

Der demokratische Rechtsstaat ist nicht irgendeine beliebige Option.

Vor einigen Tagen hat die EU die sogenannte „diplomatische Atombombe“ gezündet. So wird das Verfahren genannt mit der die EU die Rechtsstaatlichkeit eines Mitgliedstaates überprüfen kann.

Nicht nur die rechtskonservative PiS-Regierung in Polen beklagt sich darüber. Nein, auch Mancher in Deutschland sieht darin eine unangebrachte Einmischung der EU in die Souveränität eines Staates. Nachdem Motto: „Die PiS ist von den Menschen gewählt, also dürfen sie mit ihrem Land doch machen was sie möchten.“

Dabei wird aber leider vergessen, dass es hier nicht „nur“ um irgendein Gesetz zurm Thema Abtreibung geht, das die PiS vor Kurzem ebenfalls verschärft hat. Auch geht es hier keineswegs um die polnische Haltung bei der EU-weiten Verteilung von Flüchtlingen. Beides sind Themen für die es sicherlich ein Für und Wider gibt, Themen bei deren Betrachtung man auch die polnische Geschichte miteinbeziehen muss.

Doch die „diplomatische Atombombe“ wurde wegen etwas ganz Anderem gezündet. Weil die EU den Rechtsstaat in Polen in Gefahr sieht. Und wenn man verfolgt welche Veränderungen die PiS-Regierung seit der Wahl 2015 durchsetzt, dann scheint das alles andere als übertrieben.


FREIE JUSTIZ UND FREIE PRESSE IN GEFAHR?

Man kann das an zwei Beispielen festmachen, die beide zu den fundamentalen Säulen eines Rechtsstaats zählen: Die Justiz und die Presse. So will die PiS-Partei die Medien sukzessive zu „nationalen Medien“ umbauen. Unter anderem ist es nun so, dass die Senderchefs des öffentlich-rechtlichen Rundfunks vom Schatzminister ernannt und abgesetzt werden können. Man kann sich ausmalen welche Auswirkungen es hat, wenn der Arbeitsplatz Medienschaffender, dessen ureigenste Aufgabe es ist die Politik kritisch zu beäugen, von eben genau dieser Politik abhängt.

„Das ist so, als würde hier in Deutschland Wolfgang Schäuble den ZDF-Intendanten bestimmen.“Reporter ohne Grenzen

Mindestens genauso fatal, vielleicht sogar noch fataler ist der Umbau des Justizsystems. Auch hier hat die neue Regierung die Gesetze so verändert, dass die Besetzung des obersten Gerichtshof maßgeblich beeinflusst werden kann. Und auch hier stelle man sich zur Veranschaulichung einmal vor, dass unsere Politiker selbst die Richter des Bundesgerichtshofs wählen und absetzen können, die eigentlich neutral über die Rechtmäßigkeit der politischen Entscheidungen urteilen sollen.

Es ist bedenklich, dass nach Ungarn nun auch unser Nachbarland Polen seine Gesellschaft radikal umbaut. Doch noch mehr sollte uns zu denken geben, dass auch hierzulande unter dem Deckmantel der sicherlich manchmal auch angebrachten EU-Kritik wichtige Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit infrage gestellt werden.

Auch hier wettern Politiker gegen die sogenannte „Zwangsgebühren“ und die vermeintliche „Lügenpresse“, um Pluspunkte bei so manchem Wähler zu sammeln. Dass diese Politiker gerne ähnliche Eingriffe in Justiz- und Mediensystem vornehmen würden, sobald sie an der Macht sind, ist also keineswegs abwegig. Ich für meinen Teil will dann sogar, dass die EU ordnend eingreift.

In einer Demokratie entscheidet zwar die Mehrheit und es ist normal, dass neue Regierungen ihre eigene Agenda durchsetzen wollen. Doch es gibt Dinge, die dürfen nie zur Debatte stehen. Die Menschenrechte, die Pressefreiheit, die Unabhängigkeit der Justiz. Das ist ein Konsens den wir nie aufgeben dürfen. Einfach gesagt: Demokratie hat Grenzen. Wer das leugnet und den Volkswillen über alles stellt, der kann auch Massenmord oder eine Diktatur verargumentieren, sobald 50% der Bevölkerung dafür stimmen würden.

Das sollten wir uns bei allen politischen Differenzen immer vor Augen halten – von der Linken bis zur AfD: Wenn der demokratische Rechtsstaat fällt, verlieren wir langfristig alle.

Was die #ParadisePapers mit der Flüchtlingskrise zu tun haben.

Was die #ParadisePapers mit der Flüchtlingskrise zu tun haben.

Eigentlich müsste die Demokratische Republik Kongo aufgrund ihrer enormen Bodenschätze eines der reichsten Länder der Welt sein. Eigentlich. Stattdessen ist der Kongo bettelarm und belegt im Human-Development-Index Platz 176. Von nur 188 wohlbemerkt.

Wie kann das sein?

Eine Antwort gab am Sonntag ein sehr empfehlenswerter ARD-Bericht über die Enthüllung der sogenannten #ParadisePapers. Beispielhaft für die Ausbeutung rohstoffreicher afrikanischer Staaten durch internationale Großkonzerne wurde hier thematisiert wie Lizenzen für Kupfer- und Cobalt-Mienen im Kongo zu viel zu geringen Preisen den Besitzer wechseln.

Am Anfang steht eine Forderung des Kongos. Da diese Rohstoffkonzernen wie beispielsweise GLENCORE (Schweiz) offenbar zu hoch erscheint, wird ein fragwürdiger israelischer Geschäftsmann eingeschaltet. Nach kurzer Zeit kommt plötzlich eine Einigung zustande. Der Verdacht liegt mehr als nahe, dass hierfür Schmiergeld in die Taschen der kongolesischen Geschäftspartner befördert wurde. Im Ergebnis führt das dazu, dass einige wenige korrupte Politiker und Manager im Geld schwimmen, während der kongolesischen Gesellschaft aufgrund der nun wesentlich geringeren Mienenerlöse Milliarden entgehen.

Und der Verdacht scheint sich tatsächlich zu bewahrheiten. Aufgrund vieler Korruptionsvorwürfe hat sich auch ein renommierter Think-Tank mit dem Thema beschäftigt und beispielhaft fünf Mienen-Deals aus den Jahren 2010 – 2012 unter die Lupe genommen. Das Ergebnis: Allein bei diesen 5 Geschäften entgingen dem Kongo 1,36 MRD. Dollar. Laut Bericht das Doppelte der beiden zusammengenommenen (!) Etats für Bildung und Gesundheit in dem afrikanischen Staat. Und das in einem Land, in dem fast 20% der Kinder innerhalb ihrer ersten 5 Lebensjahre sterben.

Es bedarf keiner großen Fähigkeiten, um sich zu überlegen wieso Europa für viele Afrikaner ein erstrebenswertes Ziel ist und wieso sich so viele Menschen aus der ganzen Welt auf den Weg zu uns machen. Es mag dabei einige Krisen auf der Welt geben, die Flüchtlinge „produzieren“ und auf die wir leider keinen wirklichen Einfluss haben. Die systematische Ausbeutung des Afrikanischen Kontinents liegt allerdings fest in unserer Hand. 

Dass wir in Deutschland nicht unbegrenzt Menschen aufnehmen können ist klar. Wenn wir unsere Mitmenschlichkeit allerdings nicht ganz aufgeben wollen, dann muss die Politik neben dem reinen Schutz der EU-Außengrenzen auch endlich etwas gegen die Fluchtursachen unternehmen. Denn bisher erscheint das angebliche Ziel der „Bekämpfung der Fluchtursachen“ eher als rhetorische Beruhigungspille für das Gewissen der Wähler. An den Flüchtlingszahlen und vor allem dem Elend vor Ort ändert das wenig.

© Screenshot Foto und Quelle der Daten: „Paradise Papers: Geheime Geschäfte – Die Milliarden-Deals der Rohstoffkonzerne„.